1. Folge: Spallinger anrufen

(Juli 1996)



Deutschland ist das Land der Brillenträger.


Das weiß ich zwar schon seit September 1993, aber erst heute komme ich dazu, diese Tatsache in einer Kolumne zu verewigen. Daß ich diese meine erste Kolumne auf dem Weg zu einer Beerdigung im Zug schreibe, mag absurd klingen. Daß ich dies auf dem Frankfurter Hauptbahnhof tue, ist aber kein Zufall.

Denn mein Freund Axel lebt in Frankfurt. Er arbeitet beim Film. Vor einiger Zeit hatte er dienstlich in Hamburg zu tun und fragte mich, ob er mal bei mir übernachten könne. Ich sagte sofort zu. Zum einen, weil ich auch mal bei Axel übernachten konnte, zum anderen, weil Axel ein wunderbarer Mensch ist. Dabei hat er seit dreißig Jahren kein richtiges Tageslicht mehr gesehen und ist entsprechend käsig im Gesicht. Er schläft auf einer Matratze in meinem Wohnzimmer, steht morgens immer früh auf, trinkt keinen Kaffee und keinen Tee, sondern nur literweise Frischmilch. Er läßt sich von mir ein Brötchen vom Kiosk mitbringen, ißt die eine Hälfte trocken, belegt die zweite Hälfte mit Lachsschinken, ißt sie dann aber nur halb auf und steckt sich sofort eine filterlose Zigarette an. Dann fragt er mich nach der Nummer einer Taxivermittlung und schlurft nach zehn Minuten aus dem Haus.

Dann höre ich nichts mehr von ihm bis abends um viertel vor zwölf. Wenn ich zuhause vom stundenlangen Fernsehkonsum langsam müde werde, steht er plötzlich in der Tür und redet noch aufgekratzt genau eine dreiviertel Stunde lang mit mir. Dann fällt er augenblicklich in einen komatösen Tiefschlaf.




Axel hat jeden Tag einen Lieblingssatz, sein Tagesmantra, das er unablässig laut vor sich hin redet, Sätze wie: "Voll die Botten, ey, dieAlte!" oder: "Da ham die Frankfurter wieder in' Sack gehauen." Oder Zitate aus der Satire-Zeitschrift Titanic, die Axel immer mitbringt.

Axel und ich reden in der halben Stunde morgens und in der dreiviertel Stunde nachts über alles Mögliche: bestimmte Arten von Rockmusik, die heute keiner mehr hören will, Fernsehserien, die uns gut gefallen, Fernsehserien, die uns nicht gut gefallen, Fernsehserien, die einem von uns gut gefallen, dem anderen aber gar nicht, Kinofilme wie "Blue in the Face", die wir uns gemeinsam ansehen wollen, was wir aber nie schaffen, darüber, daß Frankfurt schon wieder in den Sack gehauen hat und über W. G. Sebald, den Meister der indirekten Rede. Wenn wir gerade über keines dieser Themen reden, sprechen wir über die Kolumne von Max Goldt in der Titanic.



Fällt jemand auf, daß ich im Präsens angefangen habe, dann kurz beim Imperfekt gelandet bin, dann wieder in das Präsens überging und daß ich für den folgenden Absatz wieder in den Imperfekt wechseln muß? Nein? War auch nicht so wichtig.




Nach einigen Tagen fuhr Axel wieder nach Hause und schickte mir als Dankeschön eine CD mit dem Soundtrack zum Film "Blue in the Face". Aus dieser netten Geste entwickelte sich während der folgenden Wochen ein reger Tauschhandel an Literatur. Denn Axel hat jetzt öfter in Hamburg zu tun. Bei seinem zweiten Besuch hatte er eines Abends gerade kein Titanic-Heft zur Hand und litt unter entsetzlicher Langeweile. Ich lieh ihm ein Buch von W. G. Sebald, dem Meister der indirekten Rede, von dem Axel so fasziniert war, daß er es (das Buch) mit nach Frankfurt nahm. Und es dort an seine Frau weiterverlieh, noch bevor er es zuende gelesen hatte. Seine Frau war auch fasziniert von diesem Buch, weshalb Axel es erst recht nicht zuende lesen konnte. Darum kaufte er sich ein anderes Buch von W. G. Sebald. Mir schickte er als Dankeschön für meine Gastfreundschaft den zweiten Band der gesammelten Kolumnen von Max Goldt aus der Titanic. Nach seinem dritten Besuch schickte er mir ein Buch von Alfred Andersch und den ersten Band mit den gesammelten Kolumnen von Max Goldt aus der Titanic, der nicht so gut ist wie der zweite Band, aber immer noch um Länge besser als diese Kolumne, die aber, wie mir ein Freund bestätigte, die besseren Längen habe - und vor allem sehr viel mehr indirekte Rede.

Bevor ich jetzt über das schreibe, was ich mir eigentlich für diese Kolumne vorgenommen hatte, noch eine herzerwärmende Anekdote, die zwar wenig mit dem Vorherigen zu tun hat, die ich aber unbedingt noch loswerden möchte:

Bei einem seiner Besuche in Hamburg war Axel für halb zehn abends angekündigt, und die Matratze erwartete ihn bereits im Wohnzimmer. Um halb zwölf klingelte das Telefon. Es war Axels Chef, der mir auftrug, Axel zu bestellen, daß er Spallinger anrufen solle. Spallinger sei jetzt an der polnischen Grenze angekommen und über sein Handy zu erreichen. Außerdem sagte er, daß Axel jeden Moment zur Tür hereinkommen müsse. Ich fragte völlig baff, woher er das wissen könne. Er sagte aber, Axel müsse jeden Moment dasein. Tatsächlich klingelte es keine drei Minuten später an meiner Tür, und Axel stand da. Er versuchte sofort, Spallinger anzurufen, und tatsächlich war Spallinger über sein Handy zu erreichen und gerade an der polnischen Grenze angekommen.

Ich konnte nur staunend zuhören: Spallinger hatte alle Hände voll zu tun, drei Lkws heil aus der Schweiz in die Ukraine zu bringen, wo sie für Dreharbeiten benötigt wurden. Das war ein gefährlicher Job, denn irgend eine der unzähligen Mafias, die sich im Osten gegenseitig auf den Füßen stehen, lauerte sicher schon an der polnischen Grenze, um im ersten winzigen Moment der Unachtsamkeit Spallinger die Lkws zu klauen. Darum mußte nicht nur der Hotelportier die ganze Nacht ein Auge auf die Lkws werfen, sondern Axel alarmierte auch noch die örtliche Polizei, die versprach, im stündlichen Turnus Patrouille zu fahren. Während Axel telefonierte, packte mich feierliche Stimmung. Ich war stolz. Die große weite Welt des Films hatte über Spallingers Handy ihren Weg in mein bescheidenes Wohnzimmer gefunden.

Jetzt habe ich vor lauter Begeisterung über meine Anekdote so gnadenlos den Faden verloren, daß ich einfach radikal das Thema wechsele. Damit ich endlich meine Leser begrüßen kann. Eigentlich sollte man das ja am Anfang seiner ersten Kolumne tun. Aber da mir der erste Satz so gut gefiel, habe ich ihn vorn stehen lassen und begrüße alle Leser und Netsurfer einfach jetzt:




Hallo, Leser und Netsurfer!

Willkommen bei der Internet-Kolumne,

dem Hort des Altmodischen in diesem rasanten Medium!



Denn eigentlich will ich in meiner Kolumne nie über aktuelle Dinge schreiben, sondern nur über Sachen, die schon mindestens sechs Monate her sind, am besten aber zehn Jahre. Schließlich schreibt heutzutage jeder Hanz und Frans Kolumnen, aus denen der Zeitgeist nur so herausbuht, während ich es viel spannender finde, welches Waschmittel Menschen vor zehn Jahren gekauft haben, als es noch keine Mega-Perls gab und auch kein Ariel Futur. Für welches Waschmittel habt Ihr Euch im Mai 1986 entschieden, einen Monat nach Tschernobyl? Schickt mir E-Mails! An:


Hartmut Pospiech, Writers' Room, Hamburg

Allerdings mache ich schon in dieser Kolumne von meiner Regel zwei Ausnahmen, denn ich will auch noch über das Internet schreiben. Ich bekenne, ich bin fasziniert vom Internet. Ich finde den Gedanken erregend, auf einer Datenautobahn (highway) dahinzujagen, eine Ausfahrt ins globale Dorf (global village) zu nehmen, mir dort im weltweiten Netz (WorldWideWeb) interessante Orte (sites) anzugucken und mit Hilfe von Hyper-Verbindungen (Hyperlinks) zu anderen schönen Orten (sites) zu surfen (to surf), die mich mit schönen Heimseiten (home pages) locken, die ich immer wieder sehen will, weswegen ich auf den Heimseiten Lesezeichen (bookmarks) hinterlasse.

Zum Beispiel könnte ich immer wieder die Heimseite der Fernsehserie Akte X besuchen (www.X_Files.com), weil sie so wunderbargeheimnisvoll aussieht. Als ich das allerdings tat, war ich ziemlich enttäuscht, weil ich mich stundenlang anmelden mußte und es weitere Stunden dauerte, bis ich die erste Seite zu Gesicht bekam. Das liegt an meinem langsamen Telefonanschluß, sagen die Experten. Das liegt an den lausigen Metaphern, sage ich.

Wer will schon die ganze Zeit auf einer Autobahn (highway) dahinrasen, außer Idioten, die sich einen BMW kaufen? Wer will, daß die Welt ein globales Dorf (global village) wird, wo wir doch Dörfer totlangweilig finden? Wer will, daß die Welt wieder ein Dorf (village) wird, wo es doch nichts Schlimmeres gab, als jeden Samstag in die selbe Disco gehen zu müssen? Wer will die ganze Zeit surfen, wo doch Surfer das Dümmste sind, was unter der Sonne herumläuft? Wer will zu einer Heimseite, wo wir doch alle froh waren, als wir endlich von daheim wegkamen? Oder bedeutet das nichts Anderes, als daß das Internet von Leuten erfunden wurde, die heimlich Heimweh hatten und sich dank Internet wieder wie zuhause fühlen können? Vielleicht haben wir alle Heimweh und wünschen uns wieder sehnlichst, jeden Samstag abend in die selbe Disco gehen zu können.

Womit wir am Ende dieser Kolumne wären. Denn, daß Deutschland das Land der Brillenträger ist, erfuhr ich während einer Amerikareise, an einem Freitagabend im September 1993 in einem italienischen Restaurant in Los Angeles. Während ich dort gerade staunend auf die chirurgisch aufgemöbelten Oberweiten zahlreicher anwesender Damen starrte, fiel mir plötzlich auf, daß niemand im prall gefüllten Raum eine Brille trug, außer mir und meinem Reisebegleiter. An diesem Abend erfuhr ich, daß Amerika das Land der aufgemöbelten Oberweiten und der Kontaktlinsen ist. Und Deutschland das Land der Brillenträger.

Auf dem Rückweg von dieser Reise habe ich das einzige Mal bei Axel übernachtet.




Halt, Freunde des Altmodischen! Das ist noch nicht das Ende. Denn hier ist sie:


Die Empfehlungsliste für den Monat Juli

Diese Kolumne wurde zuletzt geändert am: 27. Juli 96
Die nächste Kolumne erscheint voraussichtlich Ende Juli '96.

© Hartmut Pospiech, 1996. Dieser Text darf ausschließlich zu privaten Zwecken verwendet werden. Jede weitere Nutzung ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.


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