Eckstein No. 5

-Ästhethik einer Zigarettenschachtel,
oder was sonst vom Sommer bleibt.




Ostwestfälische Kleinstadt, 03.09.83.

Eben bin ich nach zäher, aber endlich erfolgreicher Zimmersuche in Hamburg zum erstenmal nach Hause zurückgekehrt.

Die ersten vier Wochen in Hamburg bewiesen mir ansatzweise, was ich bislang nicht nachprüfen konnte: Diedrich Diederichsen liefert einen BuchstabenSoundtrack zu den laufenden Ereignissen, schafft den Mythos von der Hamburger Wirklichkeit, vom Leben in der Großstadt, der in unseren schwach belichteten Provinzköpfen schwirrt. Er bringt aufregende Musik, geniale Filme - wenige Möglichkeiten, über die Geistes- und Gefühlsöde zu triumphieren - und erzählt, daß man auch anders rumlaufen kann als in Muscle-Shirt und Jeans.




Doch damit ist das Problem nicht gelöst. Kein Geschäft hat die neue Depeche Mode-Single und "Pieces of Ice" von Diana Ross ist nirgends als Maxi zu bekommen. Im Kino laufen Der Mann mit der Todeskralle, Piranhas II und Schule der Lust (Samstag in der Spätvorstellung). Die Klamotten, die ich kaufen kann, sind genau so schlecht, und, was noch viel schlimmer ist, im heimischen Klima versagt meine Fantasie vollkommen (auch aus dummen Klamotten muß sich was machen lassen). Aber geistiges Nullwachstum ist eh' angesagt und dann auch noch die Wende.

Als ob das nicht genug wäre: Es kommt noch schlimmer. Man hat sich die Talking Heads, Malcolm McLaren, Aztec Camera, Heaven 17, The System, Jonzun Crew und "Nightdubbing" per Mailorder schicken lassen (natürlich plus Porto und Verpackung), sich Kopf, Bauch und Beine damit vollgezogen und träumt davon, auch anständige Filme zu sehen. Aber wann lohnt es sich, ein ganzes Wochenende für einen Film in die nächste Stadt zu fahren?

Aufwand und Risiko werden unkalkulierbar. Die Realität eines Films ist unberechenbar verzerrt, bis sie über Kritiken, Druckseiten und meine Augen bei mir anlangt. Die Konsequenz ist paradox: Wer auf dem Lande lebt und Filme liebt, tut gut daran, nie ins Kino zu gehen. Bei Musik ist dieser Zustand gut verschleiert, Halbheiten lassen sich besser ertragen. Mir selbst blieb nach einer aufreibenden Materialschlacht nur die Flucht in die Großstadt.


Das Widersinnige trat ein, als meine Abreise näherrückte. Die letzten Wochenenden (die ersten des aufkommenden Sommers) waren heiter-gelöst, ganz entspannt im Hier und Jetzt. Das poplige Gartengrillen wurde zu meinem ersten Palavererlebnis, meine Smalltalks gerieten mir von jetzt an ungewollt charmant - und es erwies sich als unnötig, sogar als unangebracht, einen Vollrausch einzuplanen.

Plötzlich erfuhr ich die Fetentermine vier Tage früher als sonst, also zwei Tage vorher, und fand in ungewohnter Umgebung Spaß an Unterhaltungen mit Leuten, die selbst ich sonst nicht ertragen konnte. Zu guter letzt endete ein geplantes Essen unplanmäßig um drei in einem Baggersee und erst um halb acht im Bett (das war beinahe persönlicher Rekord und für den Kreis Minden-Lübbecke Jahresbestzeit). Nicht mal mehr der zweite platte Autoreifen innerhalb von drei Monaten konnte morgens um halb fünf meine Laune trüben.

Nur wie ich mich als Zigarettenraucher angemessen profilieren sollte, blieb den ganzen Sommer über offen. Wenn ich schon den Ruf des härtesten Nichtrauchers im Altkreis zu verlieren hatte (ich gewöhne mich leider an die allgemeine Bestürzung, mich mit Zigarette zu sehen, und die Bestürzung gewöhnt sich an mich), mußte auch was dabei 'rausspringen.

Blieb also die Tabakfrage. Selbstgedrehter war so unhip, daß selbst die Geldersparnis nicht dagegen ankam. Genau so alternativ-unalternativ wie Camel mit und ohne Filter. Mein Weg ging über alle Billigmarken, Benson & Hedges und John Player Spezial (Lucky Strike war leider schon von zwei Freunden belegt).

Auch vier Wochen in Hamburg konnten das Problem nicht lösen. Schließlich kommt es definitiv auf das Äußere an. Zigaretten sind nicht dazu da, sie zu rauchen, sondern um sie hübschen Mädchen anzubieten, oder sie um Feuer zu fragen und dann einen Smalltalk anzuwerfen. Und - sie müssen unbedingt zur rauchenden Person passen. Gerade, als kein Lichtblick mehr zu sehen war, fiel mir eine grüne Packung in die Hände, zu Hause, ausgerechnet im Automaten in der nächsten Kneipe: Eckstein No.5.

Eckstein No.5 ist grün, hat aber ein apolitisches Antistyling, so viel Charme wie Konstantin Freiherr von Heeremann ("Echt und Recht") und spätestens die dritte Zigarette schmeckt zum Kotzen. Zehn Schachteln werden reichen, um über den Winter zu kommen, und wenn Eckstein nicht mehr hip genug ist, steige ich auf OVA um (klingt wie ein Name für ein Verhütungsmittel).

Alles in allem: ein dekadenter Sommer, pervers unpersönlich, aber niemals langweilig. Alles, was kam, war mittelmäßig, doch niemals vorher war Mittelmäßigkeit so angebracht. Ich bin bereit, Bananarama zu verzeihen, denn der Sommer war nicht "cruel". Ich verzeihe allen Mädchen, die von meiner schlaksigen Gestalt im Freibad keine Notiz nahmen, ich verzeihe der Sonne, daß nur meine Arme braun wurden. Ich verzeihe sogar Diedrich Diederichsen, daß er mich im "Subito" nicht hat mitkickern lassen.

Und nun mir bleibt nichts mehr, als meinen wohlverdienten Griechenland-Urlaub anzutreten.

Ein kleiner Nachtrag gefällig?

Beam mich zurück, Scotty!